Östlich des Westens

von Adrian Heckenberger

18,4 Millionen. 17,1 Millionen. 16,0 Millionen. 15,1 Millionen. Das sind weder die Kontostände eines strauchelnden Investmentbankers, noch die sinkenden Mitgliedszahlen der deutschen Kirche. Vielmehr handelt es sich hierbei um die Einwohnerzahlen der neuen Bundesländer von 1950 über 1970 und 1990 bis zum Jahr 2000 laut Statistischem Bundesamt. In der gleichen Zeit ist die Bevölkerung Westdeutschlands von 51 Millionen auf 67 Millionen Menschen angestiegen.

Anders als in weiten Teilen Westeuropas sind die Einwohnerzahlen Ostdeutschlands in den letzten 50 Jahren stetig gesunken. Das liegt unter anderem an großen Abwanderungswellen und sehr geringen Geburtenraten. Dazu kommt noch ein Problem, das auch den Rest Deutschlands beschäftigt: Eine stark alternde Gesellschaft. Durch die vielen jungen Leute, die immer noch jedes Jahr den Osten verlassen, zeigt sich der demographische Wandel hier aber noch stärker zeigen als anderswo. Die Gründe? Sicherlich gehören dazu die Geschichte der DDR, fehlende Infrastrukturen und eine zähe Wirtschaft, erzeugt durch einen Mangel an Investoren.

All diese Zahlen greifen aber zu kurz. Denn der wichtigste Grund liegt im – westdeutsch geprägten – Bild von Ostdeutschland: Wer schon einmal durch die engen verwinkelten Gassen Italiens geschlendert ist, den werden die alten und zerfallenen Gemäuer nicht gestört haben. Viel eher werden sie zur Atmosphäre des verträumten italienischen Dorfes beigetragen haben, das sich die Touristen von einem Besuch Italiens wünschen und niemals als verwahrlost oder sogar unschön wahrnehmen würden.

Wer dagegen als Besucher aus dem Westen einmal durch das 4000-Seelen-Dorf Waldenburg im sächsischen Landkreis Zwickau gewandert ist, wird das nicht gedacht haben. Auch hier reihen sich rissige Bauten mit eingeschmissenen Scheiben und vernagelten Fenstern aneinander, sie wechseln sich ab mit verlassenen Läden und kleinen Imbissbuden, die kurz vor der Schließung stehen. Und dennoch wird dabei nicht das wohlwollende Gefühl der Melancholie, sondern eher ein unangenehmer Gedanke an die Vergänglichkeit erzeugt.

Vielleicht ist es mehr die Vorstellung von Ostdeutschland als Ostdeutschland selbst, die für viele Leute aus dem Westen eine unüberwindbare Kluft darstellt. Doch das kann sich ändern. Schließlich hat der Osten seit dem Jahr 2000 wieder knapp eine Million Bürger dazugewonnen und sich westdeutschen Entwicklungen auch in anderen Bereichen wie der Geburtenrate oder Lebenserwartung immer mehr angenähert. Und vielleicht wird es sich in ein paar Jahren nicht mehr anders anfühlen, ob man den lauten Obstverkäufer in Italien oder den kleinen Bäcker in Waldenburg auf seinem Spaziergang passiert.

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