Das Märchen von der gesunden Bewegung

von Romy Vollmar

Die Tortur ist vollbracht. 155 Männer mit bindfadendünnen Armen und baumstammdicken Oberschenkeln haben Berge erklommen, Krämpfe ertragen und Stürze über sich ergehen lassen. Nun sind die Fahrer der Tour de France 2019 nach 23 Tagen über die Ziellinie in Paris gerollt. Die Pausen zwischen den Etappen waren minimal, denn nach dem Rennen ist vor dem Rennen. Nun ist das Radrennen überstanden und der Sieger Egan Bernal gekürt. Die Frage ist nur: unter welchen Umständen und zu welchem Preis? Denn Ankommen allein zählt nichts, solange es noch einen Konkurrenten gibt, der schneller im Ziel war. Anders als in anderen Sportarten erhält nur der Erste im Radsport die Aufmerksamkeit und das gelbe Trikot. Wenn es nur das wäre – denn das ganze System des Radsports ist ein starres und marodes Konstrukt, dass nur aufrechterhalten wird, um Geld zu machen.

Doping gehört zum System

Dieses marode Konstrukt begegnet einem schon, wenn man nur an der Oberfläche kratzt. Vielen Leuten kommen beim Thema Profiradsport sofort gedopte Sieger wie Armstrong oder Merckx in den Sinn. Der Radsport zählt seit Jahren zu den Dopingsportarten Nummer eins. Und niemanden stört das. Es werden zwar verstärkt Kontrollen durchgeführt und es sind Blutpässe für jeden Sportler angelegt worden, doch die Gegenmaßnahmen bringen herzlich wenig. Wenn überhaupt sind sie lästig. Denn die Fahrer und Teamchefs beteuern immer wieder, wie wichtig ihnen ein cleaner Sport ist – und hängen dann kaum eine Stunde später erneut an einer Infusion, um ihr sauerstoffangereichertes Eigenblut in ihren Körper zu pumpen.

Siegen geht eben über alles. Sogar über einen ramponierten Körper. Laut einer Umfrage unter Radsportlern aus dem Jahr 2012 würden 50 Prozent von ihnen weiterhin leistungssteigernde Mittel nehmen, wenn sie jedes Rennen gewinnen, aber dafür in den nächsten fünf Jahren sterben müssten. Es zeigt sich, dass ein Sieg, Preisgeld und kurzzeitige Aufmerksamkeit extrem wichtig für die Sportler sind. Wer von den Zuschauern kannte eigentlich vor seinem Tour-de-France-Sieg den 22-jährigen Kolumbianer Egan Bernal, der die 500.000 Euro Preisgeld eingestrichen hat? Der aufgeputschte Champion wird in der nächsten Saison wieder in der Versenkung verschwinden, weil Anabolika, Steroide und Eigenblut nichts mehr helfen.

Psychologen alleine helfen nicht

Die Fahrer der Tour wechseln, doch was bleibt, ist der Erfolgsdruck und die Befürchtung, das Team nicht mehr unterstützen zu können. Jeden Tag trainiert der Radsportler, gewinnt kleinere Rennen und soll dann auch die große Tour de France gewinnen. Aber auf den 3365 Kilometern kommt er nicht voran. Als würde sein Fahrrad durch zähen Honig fahren, wird er immer wieder zurückgehalten. Dann kommen die dunklen Gedanken. Solch eine Situation fordert geradezu auf, die kleine weiße Pille zu schlucken, damit der Fahrer nicht mehr von der Spirale aus Leid eingesogen wird und sich stattdessen wie Supermann fühlt, der sich nicht mehr regenerieren muss.

Es ist ein Teufelskreis. Alle anderen Fahrer dopen, man selbst steht unter Druck, also beginnt man genauso verbotene Mittelchen zu nehmen. Anstatt die Sportler zu schulen und mit ihnen zu reden, verweisen die großen Teams wie Astra darauf, dass man ja keine Psychologen hätte und man solche kleinen Problemchen im Team klären müsse.

Die Tour de France ist zu voll

Im Radsport gibt es außerdem das Problem, dass beim Wettkampf nicht nur 20 gut ausgewählte Konkurrenten antreten, sondern gleich mehrere hundert. Doch wie sollen zweihundert Fahrer durch eine zwei Meter enge, mit Pflastersteinen bedeckte Straße gelangen, ohne Massenstürze zu provozieren? Richtig, es ist unmöglich. Jedes Jahr werden die Strecken der Tour de France enger und gefährlicher. Und das nicht aus dem Grund, dass größere Straßen für ein Weltevent nicht gesperrt werden könnten, sondern weil die Veranstalter ein Spektakel wollen. Stürze, Platten und Versorgungsprobleme bringen mehr Aufmerksamkeit der Fernsehteams aus aller Welt. Die bringen mehr Zuschauer, die mehr Werbekunden und die natürlich mehr Profit. Aber dann müssen sich auch mehr Übertragungsmotorräder auf der Radstrecke ihren Weg bahnen. Dass das auf so einem begrenzten Raum nicht funktioniert, ist spätestens seit dem tödlichen Vorfall 2016 bekannt, bei dem ein Begleitmotorrad den Belgier Antoine Demoitié rammte.

Die Gesundheit der Sportler wird für den Profit zurückgestellt. Und selbst wenn kritische Themen wie Doping, die mentale Instabilität der Fahrer oder die Gefahr, die von einer Menge Sportler auf kleinem Raum ausgeht, einmal angesprochen werden, distanzieren sich die Funktionäre und kehren die Vorwürfe unter den Teppich. Handeln sie überhaupt, verwenden sie ihre Energie darauf, fadenscheinige Gegenbeweise zu suchen. Als der Radfahrer Christophe Bassons sich zum Beispiel einmal offen zu Doping in der Szene äußerte, verließ er die Tour wenige Tage später, weil andere Fahrer ihn angefeindet und beleidigt hatten. Es gilt die Devise: Äußere dich positiv oder vertusche die Vergehen.

Bedenken werden einfach ignoriert

Allgemein entwickelt sich der Radsport sehr langsam. Erst seit 2005 existiert überhaupt eine Helmpflicht bei der Tour de France. Die einhundert Jahre davor wurde ohne Helm gefahren, obwohl vorher schon Bedenken angesprochen und Vorfälle dokumentiert worden sind. Auf eine wirksame Bekämpfungsstrategie von Doping und von zu engen Straßen wird man also auch noch 50 Jahre warten müssen.

Aber so lange funktioniert das marode System nicht mehr. Radfahrer verschwinden zwar nach ihrer aktiven Karriere, doch die Folgen des exzessiven Dopings bleiben. Deshalb müssen Funktionäre ausgetauscht, Dopingkontrollen schon während der Vorbereitung durchgeführt und die Abstände zwischen den Etappen entzerrt werden. Wenn nämlich nicht gehandelt wird, verstecken sich Geldhaie und kranke Sportler weiterhin hinter der Institution Radsport und zerstören den Sport, der wie kein anderer für den grünen Fortschritt der Menschheit stehen könnte.

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